20. – 29.12.2017 Torres, temporäres Tourette und Happy End

In Punta Arenas bleiben wir zwei Nächte – Regen und starker Wind verzögern die Weiterfahrt. Genug Zeit zum Vorräte aufstocken und Spazieren, die Küche im Hostel ist auch ganz brauchbar. Unverständlich jedoch einer Zimmergenossin aus Leipzig über vergangene Reisen: Thailand war ihr zu warm und feucht, auf den Gallapagosinseln gab´s 9 Tage lang nur Tiere zu sehen und am Strand lagen lauter Leguane, die auch noch rochen – nicht mal baden könne man da. Ohne Worte. Entlang der Küste geht es gegen 8 teils auf Radwegen und im fließenden Verkehr aus der Stadt heraus. Meine Sattelstütze scheint nicht ganz fest zu halten, Ersatzschrauben sind aber dabei. Andreas muss nach wenigen Kilometern Schlauch und Mantel am Vorderrad wechseln – dies zeichnete sich aber schon länger ab, mit gleich vier Ersatzreifen ist er gut ausgestattet, im Schnitt muss er alle 2000 km mindestens einen Mantel wechseln.

Bei 10 Grad und zunehmendem Wind – seitlich und von vorn geht es mit 12 km/h voran. 18 Uhr erreichen wir Villa Tehuelche – die einzige nennenswerte Anhäufung von Häusern auf dem Weg nach Puerto Natales. Vom Campingplatz ist nichts zu sehen, die Hosteria ist nicht ausgewiesen, leider auch nicht das Sportzentrum mit (laut GPS) Sauna, wo wir hofften duschen zu können. Stattdessen gibt es aber eine (geschlossene) Bibliothek, einen Kiosk und einen Imbiss mit Empanadas und dergleichen. Am Verwaltungsgebäude trifft sich die Gemeinde und bereitet das Weihnachtsgrillen im großen Maßstab vor UND direkt gegenüber steht die beste Bushaltestelle der Welt: winddicht verglast und groß genug um locker uns zwei mit Rädern und den schon vor Ort eingerichteten Peter zu beherbergen. Peter kommt aus der Gegenrichtung und beendet seine Tour in Punta Arenas. Beim einzigen Trampversuch mit Rad hatte er Glück: Auf der Ladefläche sitzend überschlug sich „sein“ Pickup nach einem Reifenplatzer und landete auf dem Dach – eine kleine Delle am Stahlrahmen des Rades war der einzige Schaden – nicht mal einen Kratzer hat er. Beim Anblick der Fotos steht fest: Die Ladefläche ist für folgende Autostopps keine Option.

Gemeinsam kochen wir auf unseren Gaskochern – je 300-500 Gramm Reis bzw. Nudeln, dazu gab´s noch einen Burger vom Imbiss. Dennoch schweifen unsere Blicke regelmäßig zum großen Grill

hinüber. Beim Abwasch im „Rathaus“ werden wir schließlich „gebeten“ zum Grillen hinzuzukommen. Uns werden Lamm von der nächsten Estancia, Huhn, Apfelwein, Rum und Softdrinks gereicht – in rohen Mengen und immer wieder. Es wird ein lustiger und unvergesslicher Abend mit wenigen Brocken Spanisch, dem Bürgermeister, der etwas Deutsch spricht, den Gemeindearbeitern und deren Familien. Wir posieren für die obligatorischen Fotos, loben immer wieder den herausragenden chilenischen Fußballspieler Arturo Vidal und sind beflissen, nicht unhöflich zu sein und so viel zu essen, wie wir schaffen. Auch die Herausforderung des Trinkens aus dem Ledersack meistern wir zum Erstaunen dieser unglaublich netten Menschen. Spät am Abend ziehen wir uns in unsere Hütte zurück, nicht ohne noch etwas für den Weg in die Hand gedrückt zu bekommen. Vollgefressen schlafen wir selig, warm, trocken und windgeschützt in der Bushaltestelle – für die kleine Gemeinde und deren Einwohner wohl kein ungwohnter Anblick.

Der nächste Tag lässt nur 50 km auf dem Rad zu – zu stark sind die Seitenwinde und als die Straße vollends gen Westen biegt, ist an ein Vorankommen nicht mehr zu denken (Gegenwind mit 11 – 18 m / Sek). Bis Puerto Natales kommt auch keine weitere Siedlung, die erreichbar wäre. Wir stoppen an einem Polizeiposten und nutzen die kleine Bushaltestelle als Pausenpunkt. In der Umgebung gibt es ein paar alte Verschläge am Fluß, die als windgeschützte Unterkunft herhalten könnten. Am Horizont regnet es bereits aus dicken Wolken. Zwei Farmarbeiter gesellen sich zu uns – auch auf dem Weg nach Puerto Natales, allerdings mit dem Bus, der 1,5 h später fahren soll. Gemeinsam schauen wir aus dem Fenster die Straße hinunter, bei jedem nach einem Pick-Up aussehenden Fahrzeug stelle ich mich in den Wind an die Straße und versuche mein Glück. Viel Verkehr gibt es nicht, Wägen mit freier Ladefläche und Platz im Inneren auch nicht. Quasi zeitgleich mit dem Bus hält ein Amerikaner aus San Francisco. Bill hoffte, dass mit mir eine hübsche, weibliche Begleitung aus dem Wartehäuschen in seinen Wagen steigen würde, nimmt mich und den so gar nicht weiblichen Andreas aber dennoch mit bis Puerto Natales. Die Fahrt ist kurzweilig, Bill ein angeblicher Frauenheld, der gern Lenkdrachen steigen lässt und die Landschaft wird hügeliger mit feinen Bergen links und rechts des Tals. Nach gut 1,5 h erreichen wir den Ort mit extrem hoher Outdoorladendichte und suchen uns ein nahezu leeres Hostel mit wunderbarem Frühstück (Brot, Rührei, Müsli, Joghurt…). Im Radladen bekomme ich den richtigen Ersatz für meine zerbrochene Schraube an der Sattelstütze. Wir bleiben noch eine weitere Nacht, nehmen an einer unterhaltsamen Infostunde zum Nationalpark (tägl. 15 Uhr im Erratic Rock – Ausrüstungsverleih) teil, genießen guten Kaffee, stocken wie immer in den Städten Vorräte auf und nutzen die Möglichkeit, mal wieder frisches Obst und Gemüse zu bekommen.

Heiligabend geht es weiter Richtung Torres del Paine Nationalpark – ein Stück am windigen See entlang, dann auf der Ruta 9 bis zum Abzweig zur Riesenfaultierhöhle. Die Straßensperrung der Y290 und die ausgewiesene längere Umleitung über schlimmen Schotter ignorieren wir und fahren mal wieder über eine für den weiteren Straßenausbau vorbereitete Piste. Die 200 Meter tiefe, 80 Meter breite und 30 Meter hohe Faultierhöhle nutzen wir zur Mittagsrast und posieren neben dem Modell des gut vier Meter langen (bzw. stehend hohen) Faultiers. Auf Schotter geht es wellig und mit später starkem Seiten- und Gegenwind Richtung Nationalpark – vorbei an Seen und Bergketten. Bushaltestellen dienen auch heute zur Rast bei kurzen Regenschauern, in deren Nähe finden wir Calafate – blaubeerartige Früchte mit vielen Kernen, die man ausspuckt – die an hohen Sträuchern wachsen. Abseits der seltenen Haltestellen bietet nur selten ein Baum etwas Schutz vor dem Wind. Die Sattelstütze bekomme ich leider immer noch nicht richtig arretiert, bei jedem Schlag der unebenen Straße rutscht der Sattel ein wenig weiter runter, was das Vorankommen weiter erschwert.

Direkt vor dem Parkeingang erwartet uns ein schöner Campingplatz am Fluß – mit Strom, überdachten Tischen und ausreichend Platz. Nur die versprochene warme Dusche bleibt kalt. Eiskalt. Weihnachten feiern wir mit Dosentunfisch, Vollkornriegel, Schokokuchen und ein bisschen Weihnachtsdeko. Bei Sonnenuntergang um 23 Uhr schlafen wir bereits – wie so oft.

Zum ersten Weihnachtsfeiertag geht es in den Park hinein – die Türme des Torres del Paine werden sichtbar, ein Stück Gletscher am Horizont, malerische Seen an denen die Straße direkt vorbei und dann wieder in die Hügel führt. Zum Glück haben wir Rückenwind, das ständige Auf und Ab der Straße und teils sehr grober Schotter (mancherorts faustgroße Flußsteine) erschweren das Vorankommen aber erheblich, noch dazu mit zu tief sitzendem Sattel. Die sicher lohnenden Tageswanderungen entlang des Weges lassen wir aus – am anderen Ende des Parks haben wir bereits den Zeltplatz gebucht und eine Wanderung geplant. Für die nur 60 km durch den Park zum Campingplatz Torres Central benötigen wir sechs Stunden – und auch heute gibt es kaum Windschutz für eine Pause. Andreas hat gleich zwei platte Reifen zu flicken.

Für zwei Nächte bleiben wir auf dem Campingplatz am Fuß des Hauptberges. Wanderer, die hier die viertägige W- oder die 7-9-tägige O-Wanderung beenden, lassen Nudeln, Reis, Tütensuppen, Gas, Riegel und Nüsse bei den Rangern zur freien Verfügung zurück. Ein kleiner Kiosk hat zudem Eier und ein paar Äpfel im Angebot. Wir essen an diesen Tagen gut und günstig, die Jagd nach kostenfreier Nahrung wird zum vergnüglichen Sport, jeder Fund wird stolz präsentiert und aufgeteilt. Im Tausch geben wir einige nicht benötigte Klamotten in den Tauschkasten, die nach kurzer Zeit schon neue Besitzer finden. Die Wanderung zum Aussichtspunkt des Cerro Torres ist wunderschön – meist durch das Tal des Flußes, mal im freien Gelände, mal im Wald, am Ende über Geröll und Schutt steil den Berg hinauf – dies ist der anstrengendere Teil mit mehr Wind. Am Ziel thronen die Felsspitzen oberhalb des kleinen Bergsees. Auf dem Rückweg überholen uns Gauchos mit Transportpferden, die zur Versorgung der beiden Rangerstationen bzw. Campingplätze entlang des Weges eingesetzt werden. Die 8 km je Richtung werden offiziell mit 4 h Gehzeit angegeben – wohl für all jene, die in Flipflops, Wintermantel, mit Keilabsatz, Kind auf dem Rücken oder verstauchtem Knöchel und ohne Wasserflasche den Weg antreten – Vertreter dieser Spezies begegneten uns leider auch auf dem subalpinen Weg. Ohne Hast und mit Pausen reichten mir ca. 2,5 h auf dem Hinweg und knapp 2 h zurück – so bleibt ausreichend Zeit, um am Zeltplatz endlich die Sattelstütze vernünftig zu fixieren und das Gepäck zu sortieren.

Am 27. Dezember werden wir vom Rückenwind aus dem Nationalparks getrieben, am Kragen einige sanftere Hügel hinauf gezerrt und außer Landes gepeitscht: Nach 10 km endet der Nationalpark und auch der Schotter – endlich wieder Asphalt! Ein paar nette Aussichtspunkte mit Blick zurück auf den Park gibt es noch. Das 60 km entfernte Cerro Castillo erreichen wir am frühen Nachmittag – hier könnten wir vielleicht ein Bett finden, der Kiosk gibt immerhin etwas Brot und Obst sowie Kekse und ein Eis her, ansonsten bietet der Grenzort aber nichts. Wir entscheiden uns, den Rückenwind zu nutzen und weitere 50 km nach Tapi Aike zu fahren – an der dortigen Tankstelle soll man campen, duschen und essen können, sogar von Internet ist an mancher Stelle die Rede. Wir reisen aus Chile aus – die Frage des Beamten nach Zollpapieren für die Räder müssen wir verneinen, nie etwas davon gehört. Nach dem argentinischen Grenzposten geht es nochmal 10 km auf schlimmen Kies, dann jedoch mit Wind von schräg hinten auf Asphalt. Bei den starken Böen ist Vorsicht geboten – häufig brauchen wir unsere ganze Fahrspur um den Seitenwind auszugleichen. Bis auf 1,5 km am Berg gegen den Wind treibt uns dieser gut voran. Nach dem Pass geht es mit vollem Rückenwind und selten unter 40 km/h durch Pampa mit silbern leuchtendem Gras und Bergpanorama. Tapi Aike kommt bald in Sicht. Das Zelt dürfen wir hinter der Straßenwacht aufbauen.

Dusche, Toilette, Essen: Fehlanzeige! Etwas Trinkwasser für unsere Flaschen bekommen wir noch, kaufen Limonade, Salzgebäck – mehr hat die Tanke allerdings auch nicht zu bieten – mit Ausnahme von gekochtem Guanakofleisch fragwürdiger Herkunft für 13 EUR pro Glas. Wir lehnen dankend ab, kochen und verziehen uns ins Zelt. Der folgende Donnerstag wird zum Tourettetag: Anfangs noch ruhig geht um Punkt 10 Uhr wieder die Windmaschine an – nun allerdings fast ausschließlich von der Seite. Die Piste, ein Abschnitt der alten Ruta Nacional 40, jetzt Ruta Regional 7, fährt sich äußerst Bescheiden: loser Schotter, Waschbrett, Steine mal wieder faustgroß … Wir treffen zwei Amerikaner aus deren Lautsprecher am Lenker Phil Collins dröhnt: „ohhh … think twice … it´s just another day for you and me in paradise“ – heute irgendwie nicht. Der Wind wird stärker, alle viertel Stunde kommt mal ein Auto vorbei. Eine der vorderen Radtaschen löst sich wegen der Huckelpiste häufiger vom Lowrider. Gegen Mittag ist an Fahren nicht mehr zu denken – 12 km schieben wir, dieser Tag geht als Tourettetag in das Tourtagebuch ein – doch jedes Fluchen hilft nicht. In der Mittagspause repariere ich die Taschenhalterung und weiter geht es – bergauf, bergab, geradeaus – zum Großteil geschoben. Die Seitenwinde drücken uns immer wieder in den losen Kies am Straßenrand, noch 25 km (von knapp 70 km) bis zum Ende des Schotters. Beim nächsten Windschutz müssten wir campen und am nächsten Morgen vor dem Wind versuchen vom Abschnitt herunterzukommen. Nach etlichen Familienkutschen kommt endlich doch noch ein Pick-Up, den ich anhalten kann. Er fährt vor und wartet dann an einer besseren Stelle – nach etwa einem Kilometer – bei der verlassenen Polizeistation, unserer geplanten Notübernachtungsoption – holen wir ihn wieder ein und dürfen unsere Räder samt Gepäck auf der Ladefläche verstauen. Andreas und ich finden gerade noch auf der Rückbank Platz. Endlich geht es raus aus dem Wind, runter vom Schotter – die Beifahrerin verteilt mehrere Runden köstlichen Maté und wir fahren nach El Calafate. Lediglich ein Flaschenhalter war den heutigen Vibrationen des Schotters am Rad und auf der Ladefläche nicht gewachsen und bricht. Ersatz gibt es beim nächsten Stopp. Auch dieses Mal haben wir Glück und sind dankbar für die Hilfsbereitschaft der Argentinier. In Calafate checken wir in ein Hostel mit vergleichsweise grandiosem Frühstück ein (Eierkuchen, Rührei…) und schmieden Pläne für die nächsten Tage. Angesichts der weiteren reinen Westrichtung der Straße nach El Chalten entscheiden wir uns, diesen Abschnitt per Bus zu überwinden. Tickets buchen wir schon für den nächsten Tag. Außer Supermärkten, Bäckereien und Möglichkeiten die Gletscher zu besuchen oder zu reiten bietet El Calafate nicht sonderlich viel. Dank einer Mountainbike-Gruppe im Hostel gibt es auch reichlich Auswahl an Radkartons zur Verpackung der Räder. Die letzten beiden Tage des Jahres verbringen wir in der kleinen Stadt El Chalten mit Bäckereivergleichen, Wanderungen zum Lago Torres (9 km je Richtung) und Fitz Roy (10 km je Richtung) – jeweils mit 8-10 Stunden angegeben, stellen sich diese Wege doch wesentlich leichter dar – nach knapp der Hälfte der angegebenen Zeit bin ich zurück im Ort. Die großzügigen Zeitangaben sind sicher den vielen mit vollem Gepäck wandernden Menschen aller Fitness- und Ausrüstungsstufen geschuldet. Die Aussichtspunkte jedoch lohnen den Weg absolut. Die Gipfel türmen sich, teils schneebedeckt und mit darunter liegendem See und nur einige Wolken winden sich in diesen Höhen rund um die Felsen.

Am betont unaufgeregtem Silvesterabend schaffen wir es mit Mühe bis Mitternacht wach zu bleiben – wir wünschen allen „Feliz Ano“ und gehen ins Bett. Am 1. Januar geht es über Schotter zum Lago Desierto, an den darauf folgenden Tagen über steile Wanderwege (mit Rad) und eine weitere Fähre nach Villa O´Higgins – und schon sind wir wieder in Chile.

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