Bislang reizten mich die Städte entlang der Route eher weniger – es sind bequeme Orte um Vorräte aufzustocken und Ersatzteile zu bekommen, die Chance auf ein Bett bzw. eine Couch und eine Dusche sind höher, als auf dem platten Land, aber nur wenige Orte lohnten wirklich einen längeren Aufenthalt der Stadt selbst wegen. Santiago de Chile, Hauptstadt dieses langen Handtuchs an der Westküste Südamerika mit wohl über 5 Millionen Einwohnern im Großraum, überraschte mich positiv. Die Straßenzüge muten europäisch bis anglo-amerikanisch an, die Stadt hat ein paar wunderbare Parks und war an diesen Tagen weniger hektisch als befürchtet. Das Stadtzentrum ist durchaus fußläufig zu besichtigen (wenn man Zeit hat). Die hatte, beziehungsweise nahm ich mir dann auch um noch am ersten Abend die große (aber gerade eben geschlossene) Markthalle anzusehen und durch das noch ruhige, scheinbar hippe Ausgehviertel zu schlendern – vereinzelt dröhnten schon erste Bässe aus den Clubs und lockten Happy Hours zum verhältnismäßig frühen Abendessen. Auffällig war die zumindest in diesem Viertel offen auftretende queere Community – in anderen Stadt-, geschweige den Landesteilen war dies eher nicht der Fall. Mit ein paar bunten Bildern im Kopf ging es auf dem Rückweg über die abendlich beruhigte Hauptstraße mit drei Baumreihen und Grünflächen. In einem der Parks traf sich auf kleiner Fläche jeder, der Lust auf „draußen“ und Kultur hatte: Vor dem Kolonialbau spielte eine (vermutlich eben erst zusammengefundene) Combo Jazz und andere freie Töne, nebenan wurde ein offener Paarakrobatik Workshop durchgeführt (blöd nur, wenn man allein da ist), keine 50 Meter weiter trafen sich die B-Boys und -Girls mit Boombox und probten ihre neuesten Moves (Yo!) und gegenüber davon stand sich eine fünfköpfige Percussiongruppe und rund 20 Tänzerinnen in Reihen gegenüber um ihrerseits Musik zu machen, neue eher folkloristische aber sehr dynamische Schritte zu lernen und weite Röcke durch die Luft wirbeln zu lassen. Rund um saßen Cliquen und Schaulustige, teils mit Picknick. Quasi wie „früher“ mal im Mauerpark. Auf dem Plaza de Armas ein ähnlicher Menschenauflauf rund um einige Straßenkünstler, jedoch lauter, aufdringlicher und ohnehin hat man dort intuitiv die Hand immer auf seiner Kamera bzw. den Wertsachen. Die angestrahlten Gebäude waren dennoch schön anzusehen.
Am 12. März war scheinbar der gerade ins Amt eingeführte neue chilenische Präsident (Südamerikas Version von Berlusconi bzw. Trump, nach einer Pause zum zweiten Mal im Amt, nachdem er um 2010 schon mal regierte und von Bechelet abgelöst wurde) zu Gast bzw. bezog den beim Putsch gegen Allende am 11. September 1973 von der nationalen Luftwaffe bombardierten Präsidentenpalast „Moneda“. Dies war übrigens der einzige Einsatz der chilenischen Luftwaffe in deren Geschichte und die Tatsache, das Allende mit Sturmgewehr und Einschußlöchern in Kopf UND Brust gefunden wurde, lässt bis heute an der Suizidtheorie zweifeln.
Während das Umfeld des Palastes zumindest für den Fahrzeugverkehr weitgehend abgesperrt und mit martialisch ausgerüsteter Polizei abgesichert wurde, gönnte ich mir nebenan einen Smoothie und eine wohltuende Rückenmassage in der mit Food-Trucks gefüllten Baulücke. Entspannung hätte auch geklappt, wäre in diesem Moment nicht Kolonne bzw. Parade mit Marschmusik und Tammtamm genau hier vorbeigezogen. Sonne und zupackende Hände im Nacken, eine Melange aus Ethno-Entspannungsmusik aus Kopfhörern und Rummtata auf den Ohren, ein besonderes Erlebnis.
Da Montag, waren die Museen und auch einer der größeren Parks leider geschlossen. Offen hingegen war eine Galerie mit Bar, Theaterraum und Vertikalgarten in einem abgebrannten altem Haus, unweit meines Hostels. Eine echte kleine Oase. In der Nähe fand ich zudem einen fähigen Fahrradmechaniker, dessen Aufkleber mir schon in Bariloche auffielen (Pimp my Bike Santiago) und der das Problem mit der Schaltung mit wenigen Handgriffen löste. Diese war in Bariloche beim Einbau der neuen Teile schlampig eingestellt worden, sodass der zweite Gang der Kassette nicht ansteuerbar war – für die kommenden Bergetappen fatal. Vom teils gaudiesk gestalteten Park und Aussichtshügel Santa Lucia hatte ich noch einen schönen 360 Grad-Blick auf die Hochhäuser und Gebirge am Horizont, die wegen der durch Tallage und hohem Verkehrsaufkommen diesigen Luft (im Winter bei fehlendem Wind gern Smog) jedoch mehr zu erahnen als wirklich gut zu sehen waren.
Die folgenden beiden Tage verbrachte ich im nur zwei Busstunden entfernten Valparaiso – immerhin UNESCO Weltkulturerbe und eine der wichtigsten Hafenstädte des Landes. Durch Landgewinnung konnte der flache Streifen der Stadt, der „Plano“, auf ein paar hundert Meter Breite entlang der Küste vergrößert werden, dahinter klettern die Stadtviertel steil die Berge hinauf. Die alte Küstenlinie ist in der Stadt mit einem Kopfsteinpflasterband markiert. Trotz bzw. wegen des großen Hafens mit Containerumschlag und Marine kommt man nicht direkt ans Meer. So ist dieses wohl mehr Sehnsuchtsort und Inspiration für viele Maler und Schriftsteller denn tatsächlicher Aufenthaltsort. Pablo Neruda besaß hier zwei Häuser, die nun öffentlich zugänglich sind, seinen Geburtsort passierte ich bereits an der Ruta 5. Wer baden will, muss jedenfalls in die Nachbarstadt Vina del Mar fahren, die ungleiche, da ungleich reichere, Schwesterstadt, und kann dort auch in den nahen Dünen Sandsurfen. Was die Stadt von anderen unterscheidet ist neben der Hanglage mit über 100 teils privaten Aufzügen und Standseilbahnen (von denen aber nur ein halbes Dutzend funktionsfähig gehalten werden konnte und touristisch genutzt wird) sicher der hohe Anteil an Streetart: Kaum ein Haus, das nicht mit gesprühter Kunst verziert (oder manchmal auch verschandelt) wurde.
Früher eher Ausdruck des Protests und mangelnder Entfaltungsmöglichkeiten, bedienen sich insbesondere auch touristische Einrichtungen der Wandmalerei lokal, national und manchmal international tätiger Künstler, um ihre Fassaden zu verzieren – mal mit reinen Schmuckelementen, nicht selten auch mit politischer Botschaft, historischem Bezug oder kritischen Blick auf die Gesellschaft. Ein gutes Mural sei dabei der beste Schutz gegen unerwünschte Bilder und Tags Dritter an der eigenen Wand. Sicher könnte man Tage damit verbringen, die sich beständig ändernde Freiluftgalerie zu bewundern. Hinzu kommt eine kosmopolitische Atmosphäre zwischen Verfall (und oft unkonventioneller Nachnutzung) der alten Villen aus Gründerzeiten, dem Geschäftsviertel, internationalen Einflüssen und der Art der Bewohner mit all dem umzugehen. Nicht nur die Graffitis machen jedes Foto bunt, oft wurde auch alles zum Hausbau verwendet, was gerade verfügbar ist: Früher Balastholz der Segelschiffe, später Bleche, Planen, Bretter aller Art. Baugenehmigungen und -pläne sind in Chile für die kleineren Häuser eher unbekannt und auch ein Gesetz aus der ersten Republik half bei der Besiedlung der angrenzenden 47 Hügel und Inbesitznahme von Land sowie alten Häusern: Solange ein Bewohner ein Bett und eine Toilette mit funktionierender Spülung vorweisen kann, darf sein Habitat nicht geräumt werden. Entsprechend kreativ sind manche Viertel und Straßenführungen abseits des Plano. Wobei wohl alle Bauten offiziell an das Stromnetz angeschlossen sind. Die oberirdische Kabelführung unterdessen könnte man aber auch in den planmäßig bebauten Vierteln schon als eigene Kunstform begreifen. Die eigentliche Sehenswürdigkeit und Attraktion ist das Stadtleben selbst – man mag es und saugt es beim Gehen durch die Straßen auf, oder aber man kann mit der Stadt nichts anfangen, die scheinbar unstrukturiert ist und Besuchern keine touristische ToDo-Liste an die Hand gibt. Einen Nachmittag lang wanderte ich vom Busbahnhof bis zum etwa 5 km entfernten Hostel durch verschiedene Viertel, bergauf, bergab, in Schleifen – das übliche Schachbrettmuster lateinamerikanischer Städte sucht man abseits des Plano vergeblich. Automatisch fühlt man sich wie auf Entdeckungstour und selbst Horden von Touristen verteilen sich im unübersichtlichen Straßengeflecht recht schnell.
Am Abend habe ich einen wunderbaren Panoramablick vom Hostel aus auf die Stadt. Nach dem Frühstück bringt mich ein rasant fahrender Busfahrer (die werden mit kleinen Prozentsätzen am Ticketumsatz beteiligt und versuchen immer schneller als die anderen zu sein, um mehr Fahrgäste befördern zu können) zurück in die Innenstadt zur Tour4Tipps. Knapp drei Stunden dauert die unterhaltsame Führung mit auf das notwendigste reduzierten historischen Daten und jeder Menge Einblicke in die Lebensart Valparaisos – vom Platz der Trinker und ältesten Bar der Stadt (mit günstigem Suff und von den Gästen vergessenen Hüten an der Wand) über eine Fahrt in einen Teil der Oberstadt, Exkursen zur Streetart, Bräuchen und Slang-Ausdrücken, Besuch des ehemaligen Gefängnisses (von Pinochet für politische Häftlinge und Folter genutzt), welches heute Kulturzentrum mit monatlich vergebenen, kostenfreien Ateliers und Proberäumen sowie Gedenkstätte ist bis hin zum Abschlussdrunk „Jote“ [sprich Chote] aus einem Schnapsglas – Rotwein mit Cola, ein fragwürdiger Genuss mit Kopfschmerzpotential. Am Abend erreiche ich wieder Santiago und bereue nicht, mir die über 100 km auf der Autobahn mit dem Rad gespart zu haben. Die Strecke ist heiß, außer Wein gibt es nicht viel zu sehen und die Busfahrt buchstäblich Minuten vor Abfahrt gerade mal vier Euro. Vorbuchen und dabei das doppelte bezahlen brauch man nicht, die Busse fahren alle 15 min und haben immer einen Platz frei. In Valparaiso selbst wäre ich abseits des Planos mit Rad und Gepäck zudem ohnehin nicht weit gekommen.